ZitatAlles anzeigenEs ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben,
am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben
darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in
der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu
folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder
Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet,
und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange
Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus
jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das ei-
gentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht
fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben. Man höre bloß
die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie
betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und
Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie
Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen
voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt -
Nur die Liebe erträgt ihn so. Warum reisen wir?
Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß sie uns
kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in
diesem Leben möglich sei -
Es ist ohnehin schon wenig genug.
Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe,
jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir
anzunehmen versucht sind - nicht weil wir das andere kennen, geht unsere
Liebe zu Ende, sondern umgekehrt.
Weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat,
darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht
mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen
einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das
unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß
unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
„Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, „wofür ich dich gehalten habe.“
Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch
ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde
geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der
Verrat.
Max Frisch - Du sollst dir kein Bildnis machen